Im Verlauf der Jahre 2019 und 2020 schien eine bislang sehr ferne und weitgehend abstrakt gebliebene, wenn gleich omnipräsente „Katastrophe ohne Ereignis“ (Eva Horn) sich in Form von schwerwiegenden Naturkatastrophen in außergewöhnlicher Häufung und Heftigkeit zu manifestieren. 2019 mit Taifun Hagibis in Japan, Zyklon Idai in Mosambiks, den zahlreichen, verheerenden und extremen Buschfeuern in Australien, sowie extremen Hitzewellen und Niederschlägen, die in Europa große Schäden anrichteten. Und seit Anfang 2020 hat die Covid-19-Krise die Welt im Griff auf eine Weise wie es zuletzt bei der Spanischen Grippe 1918 der Fall war. Laut Studien der Evolutionsforschung begünstigt unser stetiges Vordringen in die Natur sogenannte Zoonosen, also das Überspringen von Viren von tierischen zu menschlichen Wirten. Demnach wäre die aktuelle Pandemie eine von vielen konkreten (und noch zu erwartenden) Manifestationen einer allgemeinen, durch unsere Lebensweise verursachte und sich langsam abbildenden Klima- und Umweltkatastrophe.
Aus dieser Perspektive betrachtet, scheinen wir an einem Wendepunkt zu stehen, an dem die einfache oder nur leicht angepasste Fortsetzung unseres gewohnten Lebensstils uns allmählich vor Probleme unvorhersehbaren und kaum vorstellbaren Ausmaßes stellen wird. Aus diesem Grund drehen sich viele der derzeit diskutierten Zukunfts-Szenarien um den Zusammenbruch oder die Störung hochkomplexer Systeme. Denn nur in ihrer Rezeption, in der aktiven Auseinandersetzung mit derart einschneidenden Ereignissen, erhalten sie ihre Kontur und offenbaren ihr charakteristisches Bedrohungspotenzial.
In diesem Kontext versammelt die Ausstellung Tipping Point zwei künstlerische Positionen, die sich mit der Repräsentation katastrophaler Ereignisse sowie kollektiven Praxen diesen aktiv entgegenzutreten auseinandersetzen. Beleuchtet werden dabei Aspekte und Strategien wie Vorhersagung, Bewältigung, Heilung und Gedenken, aber auch das Scheitern des Menschen an der Natur, etwa in Folge seiner Technikgläubigkeit.
Florian Goldmann ist bildender Künstler und Forscher, er lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte Bildhauerei und Medienkunst an der ECA Edinburgh, der ASFA Athen und der UdK Berlin. Von 2014 bis 2018 war er Fellow am DFG-Forschungszentrum „Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens“ sowie am Brandenburgischen Zentrum für Medienwissenschaft der Universität Potsdam im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Verwendung von Modellen als Mittel zur Darstellung, zum Gedenken und zur Vorhersage katastrophaler Ereignisse. Als Mitglied des Kollektivs STRATAGRIDS war er Mitautor von Beiträgen zu Veröffentlichungen und Ausstellungen, z.B. im Haus der Kulturen der Welt Berlins Anthropozänprojekt (2014) oder im Rahmen von „Wie das Bauhaus nach Weimar kam. Ein Archiv für Hitze und Kälte“ im Thüringer Staatlichen Archäologischen Museum, Weimar (2018). Goldmann untersucht in seiner künstlerischen Arbeit u.a. beliebte Risikoindizes, insbesondere ihre Zusammenführung von Naturkatastrophen mit finanziellen Katastrophen, und die komplexen Schnittstellen zwischen Wirtschaft, Hochtechnologie und Zukunft, um Geschichten über die seismische Bruchlinie zwischen Versicherbaren und Nichtversicherbaren zu erzählen.
Sutthirat Supaparinya arbeitet mit einer Vielzahl von Medien wie Installation, Skulptur, Fotografie und Video. Ihre Arbeiten, denen intensive Forschung und Überlegungen zu ihrer Bedeutung über den jeweiligen Kontext hinaus vorausgehen, thematisieren verschiedene Aspekte menschlicher Aktivitäten, Begegnungen und Situationen und sensibilisieren häufig für politische Strukturen, Veränderungen in [gesellschaftspolitischen] Landschaften, individuelle Interpretationen von Massenmedien, die Auswirkungen von Technologie auf die Gesellschaft und untersuchen Ökosysteme, die von der Zerstörung natürlicher Lebensräume durch Industrialisierung und staatliche Kontrolle betroffen sind. Neben ihrer Arbeit in ihrem Heimatland hat sie umfangreiche Forschungen in Laos, Vietnam, Kambodscha, Myanmar und Japan durchgeführt. Derzeit forscht sie zu Fragen der Grenzerweiterung in der Subregion Greater Mekong. Sutthirat Supaparinya lebt und arbeitet in Chiang Mai, Thailand